Gibt es plötzlich eine Verkehrswende? Abstimmen mit der Pedale

Eigentlich bin ich gerade recht pessimistisch, was Verkehrspolitik in Richtung Klimapolitik anbelangt. Der FDP-Verkehrsminister Wissing geht höchstens in Trippelschritten voran, eher kümmert er sich noch um den Ausbau von Straßen und die Autoindustrie.

Auch die Bahn investiert immer noch zu wenig, auch wenn es sicherlich eine Trendwende gegeben hat gegenüber den 00er Jahren und 90er Jahren. Jetzt wird wieder etwas getan.

Aber wahrscheinlich ist das zu wenig und zu langsam. Ein Beispiel ist die Rheinstrecke: Jetzt wird diese ausgebaut, während die Schweizer schon seit Jahren warten. Der Gotthardbasistunnel ist schon seit 2016 fertig.

Auch pessimistisch stimmt: Nach einem kurzen Corona-Hoch für das Fahrrad, insbesondere im März 2020 und dem darauffolgenden E-Bike- und Fahrrad-Boom, ging es aber vor allem wieder mit den Autoverkäufen hoch. Diese sind wohl pro Person seit der Corona-Pandemie gestiegen.

Die öffentlichen Verkehrsmittel hatten wegen Corona sicherlich erst ein Image-Problem, aber ehrlicherweise muss man sagen, dass die Politik das mit dem 9-€-Ticket im Jahr 2022 und jetzt mit dem sogenannten Deutschlandticket wieder ein Stück weit aufgefangen hat. Ein günstiger Preis bedeutet aber noch keine gute Qualität.

Fahrradmitnahme in der Deutschen Bahn – Gravelbike vor IC.
Die optimale Kombination für die Verkehrswende: Das Fahrrad und die Bahn.

Plötzlich: Bessere Radverkehrsanteile in den Städten Münster, Köln & Hamburg!

Doch auch wenn die Infrastruktur für den sogenannten „Umweltverbund“, das meint eben den öffentlichen Personennahverkehr, den Rad- und den Fußgängerverkehr sicherlich nicht groß verbessert wurde, stimmen die Leute vielleicht gerade mit den Füßen und Pedalen ab.

Man muss hier ganz klar „vielleicht“ sagen, denn das ist eine Hypothese, die man empirisch überprüfen muss. Was mich aber aufhorchen ließ, sind drei interessante Statistiken:

  1. In Köln ist der Radverkehrsanteil von 2017 bis 2022 um 6% gestiegen, von 19% auf 25%, der Fußgängerverkehr sogar um 8% von 25% auf 33%. Das sind unfassbare Zahlen. Der Autoverkehr soll sogar von 35% auf 25% geschrumpft sein. Ich hoffe in diesen Zahlen ist kein „Bias“ (Fehler).
  2. In Münster, die zusammen mit Karlsruhe bestausgebauteste Fahrradstadt in Deutschland, stieg der Radverkehrsanteil auf satte 47% (vorher 44%), der Fußgängeranteil gar von 12% auf 19%, auch hier sieht man eine ähnliche Entwicklung wie in Köln, was also nicht auf einen Fehler, sondern einen Trend hindeutet.
  3. Auch Hamburg und die Hansestadt ist alles andere als eine Fahrradstadt stieg der Radverkehr in 2022 von 15% auf 22%, während der Autoverkehr von 36% auf 32% zurückgeht.

Zwar ist der Anteil des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNVs) in beiden NRW-Städten auch geschrumpft (in Hamburg hat er wohl um 2% zugenommen). Aber: Da bin ich nicht so ganz pessimistisch, weil ich einen Deutschland-Ticket-Effekt ab 2023 und 2024 vermute. Denn viele kaufen sich das Ticket und werden es nutzen. Corona ist noch nicht lange her und die Verkaufszahlen sind wirklich sehr gut, wie man hört.

Dieser vermutete Deutschland-Ticket-Effekt wird aber abebben, wenn an der Verkehrsinfrastruktur der Bahn sich nichts verändert. Gerade im ländlichen Raum aber könnte man hier durch On-Demand-Busse einiges rausholen etc.

Radinfrastruktur in Karlsruhe
Positivbeispiel: Auch auf viel befahrenen Straßen gibt es in Karlsruhe eine sehr gute Radinfrastruktur.

Was passiert da? Warum fahren auf einmal mehr Menschen Fahrrad?

Es scheint also wirklich so zu sein: Die vielen E-Bikes und andere Räder, die während des Booms in der Corona-Pandemie gekauft wurden, steigern also jetzt wohl tatsächlich den Radverkehr.

Sicherlich ist ein Grund die hohe Verbreitung des E-Bikes. 2023 wird von der Fahrradindustrie vermutet, dass erstmals mehr E-Bikes als klassische Fahrräder verkauft werden. Gerade Deutschland ist das E-Bike-Land überhaupt von der Menge der Stückzahlen her.

Außerdem ist Radfahren wohl wieder mehr „schick“. Es gilt als modern und urban, mit dem Lastenrad oder dem E-Bike durch die Städte zu cruisen. Ich vermute hier aber auch einen starken Stadt-Land-Unterschied.

Die Zahlen überraschen mich schon, da trotzdem das Fahrrad auch schon vor der Pandemie auf dem aufsteigenden Ast war, die Modal-Split-Zahlen fürs Rad so vor sich hindümpelten. Bundesweit waren sie nur bei 8-12%.

Es kann sein, dass das für die Fläche auch weiterhin so bleibt. Wenn der Supermarkt hat 10 Kilometer entfernt ist und man das bequeme Auto hat, dann nimmt man es auch. Auch beim Pendeln ist es weiterhin praktisch. Aber in den Städten scheint es so, dass immer mehr auf das Fahrrad steigen.

Wenn das so weitergeht, haben wir in vielen Städten Anteile im Bereich der Niederlande oder zumindest wie in Dänemark. Die Deutschen, auch wenn die Infrastruktur weiter meistens nicht gut ist, wagen es: Sie fahren auf einmal richtig viel Rad!

Fahrrad-Invasion in Münster.
Fahrrad-Invasion in Münster.

Infrastruktur, Infrastruktur, Infrastruktur… Sagte ich schon: Infrastruktur (fürs Fahrrad)

Die Krux an der Sache: Die Politik kann sich hier kaum auf die Schulter klopfen. Es ist tatsächlich eher die Radindustrie, die es kann (gut, ich arbeite in der Industrie, hier bin ich etwas parteiisch).

Aber eins ist klar: In Deutschland wird definitiv noch zu wenig für die Infrastruktur getan. An vielen Stellen sind zwar Radschnellwege geplant, aber faktisch heißt die Kilometerlänge neuer Radwege oft einfach: 0.

Auch werden die Städte kaum sicherer für den Radverkehr gemacht. An der ein oder anderen Stelle wird etwas getan, aber es bleibt ein Flickenteppich.

Auch der ADFC-Fahrradklimatest sah global in Deutschland keine Verbesserung. Es gab einzelne Städte, herauszuheben sind tatsächlich Tübingen und Reutlingen, die sich verbessert haben. Aber insgesamt sieht man hier wenig.

Umso erstaunlicher, dass die Menschen plötzlich so stark aufs Rad steigen. Angesichts der nicht verbesserten Infrastruktur hätte ich erwartet, dass viele der Corona-Räder dann doch ein Dasein in der Garage fristen. Es ist wohl anders, das ist sehr positiv.

Nijmegen Fahrradbrücke über die Waal (Rhein).
Bis die Infrastruktur in Deutschland so gut wie in der Niederlande wird, werden noch Jahre vergehen.

Ein gesellschaftlicher Widerspruch: Mehr Menschen auf dem Rad, mehr Platz gibt es aber nicht

Es wird hier also zu einem gesellschaftlichen und auch einem politischen Widerspruch kommen. Die Leute werden irgendwann die Radwege richtig heftig einfordern werden.

Denn wenn der Radverkehrsanteil in manchen großen Städten nahe an den PKW-Anteil kommt oder dieser sogar überholt wird, dann wird man sich fragen: Warum habt ihr so viel Platz und wir so wenig?

Warum müssen wir so ein großes Risiko eingehen beim Radfahren, während ihr das Risiko seid?

Da steht uns ein Verteilungskonflikt von öffentlichem Raum bevor, der politischen Zündstoff birgt. Wenn hier die Kommunalpolitik nicht zumindest Schritte einleitet und Wege sucht, um die Infrastruktur zu verbessern, könnte es auch zu Protesten kommen, die vielleicht auch über die Verkehrswende-Blase hinausgeht.

Es wäre zumindest zu wünschen. Ein Oberbürgermeister jedenfalls sollte in Deutschland bald nur noch eine Chance haben, wenn er ein Radverkehrskonzept hat. Und zwar ein wirkliches Konzept, nichts nur für die Schublade.

Hier gibt es Städte, die vorangehen, wie z.B. Hannover und welche, die weiterhin schlafen, wie meine eigene Heimat (zumindest arbeite ich dort): Stuttgart.

Hoffen wir, dass sich etwas ändert! Ich empfehle: Einfach mit der Pedale abstimmen. Ob Klickpedale oder klassische flache Pedale – das ist egal!

2 Gedanken zu „Gibt es plötzlich eine Verkehrswende? Abstimmen mit der Pedale“

  1. Bei uns in Hannover sind die Radwege teilweise so schlecht, dass man gezwungen ist Umwege zu fahren oder auf der Straße. Nach mehreren Wochen hatte ich neben Nackenschmerzen einen komplett verspannten Rücken. Die Straßen werden regelmäßig gewartet, Radwege hingegen nicht.

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    • Hallo Schtronz,

      ja, das verstehe ich, dass das ein Problem ist. Ich hoffe, dass es in Hannover diesbezüglich in den nächsten Jahren Verbesserungen gibt.

      Viele Grüße,
      Markus
      (RadtourenChecker)

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